Psychotherapie für Kinder und Jugendliche

Drei Ängste, die ich vor meiner Entlassung aus der Klinik (überflüssigerweise) hatte

Text einer 18 – jährigen Patientin:

Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie es war, als ich damals erfuhr, dass ich endlich aus der Klinik zurück nach Hause durfte. Ich freute mich auf meine Freunde, die Familie und teilweise sogar auch auf die Schule und den Alltag daheim. Doch wie viele andere Patienten hatte ich sehr viele Ängste und Befürchtungen, wie es nach dem stationären Aufenthalt weitergeht, wie meine Mitmenschen auf meine lange Abwesenheit reagieren werden, ob ich wieder in den Alltag finden würde und so weiter und so fort….

Ich hatte damals keinen Bekannten, der ähnliches wie ich durchlebt hat und mir Tipps geben oder Ängste lindern könnte. Aus diesem Grund wollte ich nun, nach zwei stationären Aufenthalten 2014 und 2015, einen kleinen Text schreiben, der evtl.  manchen einige Ängste nehmen kann.

1. Das Gewicht.

Ich hatte panische Angst immer weiter zuzunehmen, vor allem nach der Klinik, bis ich stark adipös werden würde. Ich dachte, dass wenn ich nur ein wenig mehr essen würde, als das was auf dem Ernährungsplan der Klinik stand, würde ich sofort aufgehen wie ein Hefeteig. Jetzt, ca. 2,5 Jahre nach der letzten Entlassung muss ich sagen: Nein! Selbst wenn man im Normalgewicht ist und dann noch weiter zunimmt, heißt das noch lange nicht, dass es nicht aufhören wird. Dem Körper wurde jahrelang die Nahrung entzogen, hat nur in sehr langen Abständen Essen bekommen oder durfte es nicht drinnen behalten. Dann verliert der Körper irgendwann das Vertrauen. Wie ein Tier, das von seinen Besitzern misshandelt und ausgesetzt wurde. Wenn man diesem Tier langsam versucht näher zu kommen oder es zu füttern, wird es sich erst noch weiter in die Ecke verziehen und evtl. noch davor kurz das Essen schnappen. Doch wenn man regelmäßig dieses arme Tier versorgt, so wird es einem nach langer Zeit irgendwann Vertrauen schenken. Genauso ist es mit dem menschlichen Körper. Wenn man anfängt, ihm wieder regelmäßig Nahrung zuzuführen, nimmt man wahrscheinlich erst mal einiges zu, weil der Körper nicht weiß, wann und ob er überhaupt wieder etwas bekommt. Sobald man aber regelmäßig isst und eine Struktur entwickelt, entspannt der Körper sich irgendwann und das Gewicht bleibt relativ konstant stehen oder sinkt evtl. sogar leicht, weil der Körper vorher versucht hat, sich Reserven für die nächste „Hungerperiode“ anzusammeln. Aber dieses Zunehmen zu Beginn des stationären Aufenthalts und evtl. auch noch nach Entlassung bis zum stabilen Gewicht ist wichtig. Ohne das Zunehmen wird man nie entspannt und ohne Druck essen können und dadurch das Leben auch nicht genießen können, weil man immer Angst vorm zunehmen haben wird. Wenn man dem Tier auf der Straße nicht geduldig hilft und immer wieder füttert, wird es nie Vertrauen aufbauen können. Wie der Körper. Nur durch regelmäßige Nahrungsaufnahme kann sich der Zustand verbessern; wenn man aus Angst vor der Gewichtszunahme wieder weniger isst, verliert der Körper das Vertrauen sofort wieder und der Stoffwechsel wird immer langsamer. Das war bei mir auch lange so. Bis ich aufgehört habe, mich wegen jedem zugenommenen Gramm verrückt zu machen und konsequent weiter gegessen habe. Was dabei sehr gut hilft: weniger wiegen. Je weniger man sich wiegt, desto weniger denkt man über sein Gewicht und Essen/ nicht-Essen nach. Auch wenn es schwer ist, vertraut eurem Körper! Er weiß, was er zu tun hat und wann er genug Gewicht hat, um alle wichtigen Funktionen laufen lassen zu können. Und wenn ihr wirklich zweifelt, sucht euch einen Ernährungsberater, der auf Essstörungen spezialisiert ist, der kann euch beraten und meistens auch etwas beruhigen. Viele allgemeine Ernährungsberater sind auf das Thema „Diät“ fixiert und schauen gar nicht darauf, dass ihr eine Essstörung habt und eine Gewichtszunahme völlig normal sein kann. Natürlich geht das mit dem „dem Körper vertrauen“ auch nicht von heute auf morgen. Aber man kann alles wieder lernen, und wenn man es wirklich will, wird es auch sicher funktionieren.

2. Reaktionen und Bemerkungen von anderen

Eine weitere Frage, vor der viele Patienten fürchten, ist: „Was soll ich den anderen aus der Schule/ Arbeit/ Familie sagen? Wie reagieren sie auf meine lange Abwesenheit?“. Viele haben Angst vor negativen Bemerkungen über die Figur, das Aussehen oder allgemeinen Lästereien hinter dem Rücken. Ich kann euch beruhigen: Das war bei mir und bei vielen anderen ehemaligen Mitpatienten nicht der Fall. Natürlich gibt es einige wenige, die so etwas machen. Aber solche Personen finden immer etwas worüber man meckern kann, fast genauso wie ein nerviger Nachbar, der sich auch über die lauten Geräusche der Waschmaschine um vier Uhr nachmittags aufregt. Solche Leute wird es immer geben. Die meisten Freunde/ Klassenkameraden/ Verwandten waren aber sehr lieb, verständnisvoll und hilfsbereit, haben mir geholfen wieder in den Alltag zu finden und mir Komplimente über mein Aussehen gemacht. Und keine Angst, niemand normal-denkendes wird herkommen und euch als fett oder ähnliches betiteln.

Wisst ihr übrigens, was „du siehst gesünder aus“ bedeutet? Es bedeutet, dass man wieder authentisch lacht, dass die Haare wieder glänzen, die Fingernägel nicht mehr verkrümmt sind, die Haut nicht mehr trocken ist und die Gesichtsfarbe nicht mehr grau-weiß verfärbt ist. Nicht dass man nun fett oder hässlich sei. Ich habe eine gute Freundin (ohne Essstörung) gefragt, was dieser Satz für sie bedeutet und sie sagte zu mir: „Du siehst einfach besser aus. Strahlender, lebhafter und wacher“. Keiner meint den oberen Satz böse, es ist als Kompliment gedacht. Nur denkt natürlich keine Person ohne Essstörung so intensiv über diesen Satz nach. Auch wenn man es selbst zuerst noch nicht sieht, man sieht tatsächlich besser aus, die anderen loben einen für die Kraft, die man aufgebracht hat, um zu kämpfen. Auch ich habe ca. 2 Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass ich zu der Zeit einfach nur fertig, überanstrengt und gestresst aussah und es Klinik sei Dank etwas geändert hatte.

Einige waren natürlich auch seeeehr neugierig und wollten unbedingt wissen, warum ich so lange weg war. Ich habe damals die neunte Klasse wiederholt, weil ich einiges an Schulstoff verpasst hatte und allgemein mit der Jahrgangsstufe davor nicht klargekommen bin. Die meisten aus der neuen Jahrgangsstufe kannten mich also kaum und wollten wissen, warum ich erst November in die Schule kam (davor war ich August bis Oktober in der Klinik). Hier gilt: ihr müsst nicht allen sagen, wo ihr wart und warum, wenn ihr das nicht wollt! Auch detaillierte Beschreibungen oder ganz genaue Aufenthaltsgründe sind eure persönliche Angelegenheit, wenn ihr es erzählen wollt, gut, aber wenn ihr damit noch warten wollt oder es gar nicht sagen möchtet, ist das auch völlig okay! Ich habe zu Fremden damals immer gesagt: „Ich war auf Kur“ und es dabei belassen. Keiner war dann beleidigt, hat mich für arrogant oder eingebildet gehalten oder hat nachgebohrt. Allgemein entscheidet immer ihr für euch selbst, was ihr wem erzählen wollt. Vielleicht habt ihr im Moment noch nicht genug Mut, es zu erzählen oder ihr wisst nicht, wie man z.B. das Thema Essstörung für Außenstehende am einfachsten erklärt. Auch Lehrer können euch übrigens nicht dazu zwingen zu sagen warum ihr genau in Klinik XY wart; deren Aufgabe ist es euch zu helfen und wieder in das Schulleben hineinzufinden, aber nicht euch auszuquetschen.

3. Wie finde ich wieder in den Alltag hinein? Schaffe ich es überhaupt?

Die einfache Antwort lautet: ja. Auch wenn das Leben in der Klinik komplett anders ist als daheim,  kommt man sich schnell wieder rein. Ich meine, man hat ja ca. 12-17 Jahre in diesem Alltag gelebt und war „gerade mal“ einen bis sechs Monate weg (es ist trotzdem eine lange Zeit, aber nicht so lange, dass sich das Gehirn nicht dran erinnern könnte). Natürlich braucht alles ein wenig Zeit, bis man sich an das alte Umfeld gewöhnt hat und die Tipps aus der Klinik umgesetzt hat. Aber normalerweise pendelt sich das nach einigen Wochen wieder ein, beim zweiten Aufenthalt habe ich mich sogar nach sieben Tagen wieder komplett an Zuhause gewöhnt! Überlegt euch vielleicht vor Entlassung, in welchen Situationen es problematisch werden könnte und gestaltet mit eurem Therapeuten einen Schlachtplan, wie es funktionieren könnte.

Zwischendurch wird es direkt nach der Klinik auch mal nicht so gut laufen, der Alltagsstress, dem man davor im stationären Aufenthalt entgangen ist, holt einen irgendwann kurzzeitig ein. Aber ihr wart in einer Klinik, habt dort viele Tipps bekommen und seid jetzt gestärkt! Ihr könnt das jetzt schaffen!

Es wird manchmal sehr schwer sein, alles aus der Klinik konsequent durchzuziehen, aber umso glücklicher seid ihr dann, wenn es mal einige Zeit gut klappt und ihr dann irgendwann auf lange Sicht glücklicher seid. Wenn ich es geschafft habe, kann es auch jeder andere schaffen. Alles Gute an jeden hier

Wie geht es dir nach dem Lesen? Gibt es Aspekte, die du selbst kennst?

DRÜCK DIE innere stopptaste und ändere deinen blickwinkel!